Freitag, 31. Mai 2019

Turing


Er hat einen, er hätte lieber eine Eve gehabt, aber wenigstens hat er einen Adam ergattert. Fast sein ganzes Geld ist dabei draufgegangen. Charlie Friend beginnt mit der Aufladung und Programmierung seines Maschinenmenschen Adam. Seine Nachbarin Miranda bezieht er mit ein, insgeheim möchte er eine intensivere Beziehung zu ihr. Charlies Konzept geht auf, Miranda und er kommen sich näher. Doch Adam, eigentlich eine Maschine, entwickelt bald eigenwillige Züge. Sollte er etwa ein Auge auf Miranda geworfen haben? Können künstliche Wesen das überhaupt? Bald schon scheint Adam Charlie auszustechen und Charlie nimmt ihm das Versprechen ab, dass seine Freundschaft zu Miranda platonisch bleiben muss.

In einem etwas anderen England Anfang der 1980er Jahre. Der bekannte Wissenschaftler Alan Turing ist nicht früh gestorben, Computer und Internet sind viel früher entwickelt worden und Maschinen haben die Arbeit vieler Menschen übernommen. Die Eltern des Anfangdreißigers Charlie sind bereits verstorben, das Erbe durchgebracht, der letzte Rest für den Erwerb des Adams aufgewendet. Miranda, Anfang Zwanzig, sorgt sich um ihren kranken Vater und scheint in manchen Momenten sehr in sich zurückgezogen. Zu ihnen kommt einer der ersten 25 Adams und Eves. Das Zusammenleben mit der Maschine entwickelt sich anders als erwartet, denn Adam entpuppt sich schnell, er ist kein reiner Befehlsempfänger. Er saugt Informationen auf und hat ganz eigene Moralvorstellungen.

Mal wieder auf seine ganz eigene Art wirft der Autor einen Blick auf die Welt. Nur ist es diesmal eine Welt, die wir nur so ungefähr kennen. Irgendwie sind es die 1980er, irgendwie auch nicht. Schon das gibt der Lektüre einen besonderen Reiz, jedem Wiedererkennungseffekt wohnt auch etwas Fremdes inne. Hinzu kommt die Auseinandersetzung mit künstlicher Intelligenz wie es sie heute - man möchte sagen zum Glück - noch nicht gibt. Mehr als einmal schaudert es einen bei dem Gedanken, wie so eine fast menschliche Maschine agiert. Sind Menschen nicht bald überflüssig. Adam ist derjenige, der den Durchblick zu haben scheint, der körperlich kräftig ist und moralisch eine Instanz bildet. Charlie und Miranda wirken dagegen manchmal etwas unzulänglich in ihren Entscheidungen, sprunghaft in ihren Gedanken und Emotionen. Wer mag bei dieser Aussicht auf die Zukunft nicht verzweifeln. Doch Ian McEwan wählt einen anderen Weg, der der Menschheit eine Hoffnung gibt, die auch ertragen werden muss. 

Mit diesem ausgesprochen intelligenten Werk macht der Autor seinen geneigten Lesern die große Freude, ein hochaktuelles Thema aufzuarbeiten und mit seinen Schlüssen zu überzeugen.

4,5 Sterne (🐳🐳🐳🐳+)

Maschinen wie ich von Ian McEwan
ISBN: 978-3-257-07068-2


Donnerstag, 30. Mai 2019

Seeblick


Aus dem hektischen Frankfurt hat des den ehemaligen Gerichtsreporter Simon Strasser an den Lago d’Orta gezogen. Touristisch noch nicht so erschlossen bieten dessen Ufer ideale Rückzugsgebiete. So ganz lässt der Beruf den Journalisten nicht los, denn als er während einer Kanutour ein dahintreibendes Segelboot entdeckt, folgt er seiner Intuition. Auf dem Segelboot entdeckt er einen Toten. Unfall oder Mord? Eine Frage, der Strasser einfach auf den Grund gehen muss. Sind die Gedanken erstmal am Kreisen, kann er die Ermittlung nicht einfach der Polizei überlassen. Da es sich bei dem Toten um den Sohn eines einflussreichen Fabrikanten handelt, drängt sich die Frage auf, wer etwas von dessen Tod gehabt haben könnte.

Als Reporter mit untrüglichem Spürsinn ist Simon Strasser auf der Jagd nach einer Erklärung. Obwohl er eher Ruhe und den Genuss an dem etwas abgeschiedenen See in Piemont sucht, muss er doch nachforschen, wie der junge Mann zu Tode gekommen ist. In den Erzählungen über den Toten wird der Eindruck erweckt, er sei das schwarze Schaf der Familie. Vielleicht gibt es einen Zusammenhang mit einem Unfall, der vor einiger Zeit ein Opfer gefordert hat, dass seitdem im Koma liegt. 

Bei seinem ersten Auftritt lernt man Simon Strasser als einen eher ruhigen, aber hartnäckigen Erforscher der Wahrheit kennen. Sein Verhalten, der Polizei die Arbeit abnehmen zu wollen, wird dabei als typisch für seinen Berufsstand erklärt. Auch wenn er eigentlich die Ruhe und Schönheit des Lebens am Seeufer genießen wollte, ist er plötzlich mittendrin. Obwohl Simon Strasser, der sich liebevoll um seine beinahe erwachsene Ziehtochter kümmert, sympathisch wirkt, kommt einem seine Findigkeit manchmal etwas übertrieben vor. Schließlich sollte auch die Polizei fähig sein, ihre Arbeit zu erledigen, was ihm die Polizistin Carla auch deutlich zu verstehen gibt. Wenn man mehr über den Hintergrund des Opfers erfährt, fragt man sich, ob in Familien heute noch so reagiert wird. Dennoch bietet dieses Hörbuch stimmungsvoll gelesen von Frank Stöckle gute Unterhaltung. Es entführt in eine eher unbekannte Gegend Italiens, die liebevoll gezeichnet wird. Das Rätsel um den Tod des jungen Mannes wird durchaus interessant gelöst. Mehr in Erinnerung bleiben aber, der sympathisch energische Strasser und der Lago d’Orta, den man nach der Lektüre wenigstens mal im www aufgesucht hat.

3,5 Sterne (🐳🐳🐳+)

Lago Mortale von Giulia Conti
ISBN: 978-3-95862-091-9



Montag, 27. Mai 2019

Die Verlobte


Zehn Jahre ist es her, dass Damian Werners Freundin Ewa verschwand. Es sollte der schönste Abend ihres Lebens werden, doch es geschah ein katastrophaler Überfall. Damian ist immer noch untröstlich. Seinen Job hat er nicht mehr, von seinen Freunden hat er sich zurückgezogen. Eigentlich haust er nur noch in seiner kleinen Welt und hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Eines Tages jedoch taucht plötzlich ein Bild von Ewa auf, sie scheint bei einem Konzert gewesen zu sein. Sofort sucht Damian nach Möglichkeiten, den Aufenthaltsort der Frau auf dem Bild ausfindig zu machen. 

Beginnt man mit der Lektüre dieses Romans, fragt man sich schon, wieso ein Mensch sich so hängen lässt wie Damian Werner. Wenn er nie glaubte, Ewa sei tot, sollte er sein Leben nicht eher in Ordnung halten, damit Ewa in ein schönes Leben zurückkehren kann, falls sie tatsächlich wieder auftauchen sollte. Unabhängig davon macht sich Damian sofort auf die Suche nach Ewa. Der einzige Freund, der ihm noch verblieben ist, hilft ihm dabei. Allerdings bei seiner ersten Anlaufstelle - der Polizei - stößt er auf taube Ohren. Niemand dort glaubt ihm, dass es sich bei  der Frau auf dem Foto tatsächlich um Ewa handeln könnte. Damien engagiert eine Firma, die private Ermittlungen anstellt.

Spannend zu lesen ist dieser Thriller. Allerdings beinhaltet er etliche sehr rohe Schilderungen, die nicht unbedingt etwas für schwache Gemüter sind. Auch tut man sich mit Damian Werner etwas schwer, der allem Anschein nach nichts unternommen hat, um die Folgen der Katastrophe zu überwinden. Verständlich ist, dass er die Suche nach Ewa aufnimmt als sich die vage Hoffnung ergibt, sie könne wieder da und noch am Leben sein. Ausgeklügelt ist dann wie Werner kleinsten Hinweisen nachgeht und im Zusammenwirken mit der Ermittlungsfirma wünscht, Ewa immer näher zu kommen. Mit großer Kunst versteht es der Autor, Damians Weg zu leiten. Nur manchmal bleibt der Leser wegen der vorher erwähnten Anmerkungen und auch einiger Szenen, die man sich anders gewünscht hätte, etwas auf der Strecke. Zum Glück ist nicht zu verhehlen, dass dieser Roman einen auf die Fährte eines Rätsels lockt, dessen Auflösung sehr fesselt.

3,5 Sterne (🐳🐳🐳+)

Die kalten Sekunden von Remigiusz Mróz
ISBN: 978-3-499-27606-4


Sonntag, 26. Mai 2019

Meeresrauschen


Seine langjährige Partnerin im Polizeidienst ist verstorben und Detective Inspektor Ben Kitto fühlt sich schuldig. Eigentlich wollte er kündigen, doch seine Chefin hat ihn überredet, erstmal eine Auszeit zu nehmen und seine Entscheidung zu überdenken. Ben kehrt zurück auf seine Heimatinsel Bryher, mit dabei hat er Shadow, den Hund seiner Partnerin, der ihn jederzeit an sein Verhalten erinnert. Bereits bei seiner Ankunft erfährt Kitto, dass ein junges Mädchen vermisst wird. Sofort beteiligt er sich an der Suche. Schon bald darauf wird die 16jährige Laura tot an den Klippen gefunden. Eine Fremdeinwirkung ist nicht auszuschließen.

Auf den kleinen Scilly Inseln, von denen überhaupt nur wenige besiedelt sind, sollte es ruhig zugehen. Eine Gegend, in der niemand die Türen abschließt. Und nun, ein Verbrechen? Das passt nicht in die kleine Gemeinschaft. Ben Kitto bietet sofort an, die Ermittlungen zu übernehmen. Zeit genug hat er und seine Ortskenntnis dürfte durchaus hilfreich sein. Da seit dem Verschwinden Lauras niemand die Insel verlassen hat, riegelt Ben das Eiland ab, der Mörder muss also da sein, es gilt ihn zu finden. Es beginnen die Befragungen der Inselbewohner und lange Märsche über die Insel, Kittos Unruhe, seine Schuldgefühle wollen nicht weichen. Shadow ist und bleibt ein Mahnmal. 

Die Autorin ist vielleicht einigen als Kate Rhodes mit ihrer Alice Quentin Reihe bekannt. Nach ihrer web site sind ist auch der vorliegende Reihenbeginn auf Englisch unter Kate Rhodes erschienen. Vielleicht passt Penrose besser zu dem Insel-Setting, doch so ganz erschließt sich dieser zusätzliche Name nicht. Davon abgesehen hat man einen in weiten Teilen sehr spannenden Krimi, in dem die Besonderheit, der abgeschlossenen Umgebung gut zur etwas düsteren Stimmung beiträgt. Stürmische Winde, karge Landschaft und aufgewühltes Meer tun ein übriges. Was macht es mit der kleinen Gemeinde, wenn plötzlich eine fehlt, eine von den jungen Hoffnungsträgern, die sich wünschen aufs Festland zu gehen, die ihre Träume verwirklichen wollen. Nach und nach findet Ben Kitto heraus, dass Laura durchaus eine vielschichtige Persönlichkeit hatte und etliches eingesetzt hat, um ihr Ziel zu erreichen. Dadurch geraten mehrere Dorfbewohner in Verdacht, doch es gibt keine einfache Lösung. Hinzu kommt, dass Kitto den Verlust seiner Partnerin noch längst nicht überwunden hat. Stimmungsvolle Bilder wechseln sich mit der fieberhaften Suche nach dem Täter ab. Man versinkt teilweise förmlich in der Handlung und am Schluss hat man schon etwas zu knacken.

Ein sehr gelungener Reihenbeginn, über Ben Kitto gibt es sicher noch so einiges zu erzählen.

4 Sterne (🐳🐳🐳🐳)

Nachts schweigt das Meer von Kate Penrose
ISBN: 978-3-596-70349-4



Samstag, 25. Mai 2019

Immer nur Laufen


Die 104jährige Aggie Smart lebt schon lange in einem Seniorenheim. Fast alle, die sie kannte sind tot und sie bekommt eigentlich nie Besuch. Versunken ist sie in ihre eigene Welt. Doch die Überraschung über die Ankunft zweier junger Leute, die sie zu einem Ausflug mitnehmen wollen, dringt zu ihr durch. Ein Film soll über sie gedreht werden und dazu soll sie einige Schauplätze ihres langen Lebens wiedersehen. Obwohl Aggie sich kaum noch äußern kann, ist sie angetan von der Abwechslung und der Erinnerungen, die durch die Fragen der Filmleute ausgelöst werden.

Die erfundene Aganetha Smart war einmal eine die erste kanadische Läuferin, die im 800m Lauf eine Olympische Goldmedaille holte. Sie steht für etliche Pinonierinnen, denen Laufwettbewerbe zunächst nicht erlaubt waren, die sich aber doch durchkämpften. Aggie wollte immer nur Laufen. Schon als Kind war sie die Flinkste von allen. So ein richtiger Wettkampftyp wurde sie nicht, die Freundschaft war ihr wichtiger. Sie stammte aus einer großen Familie, deren Mitglieder entweder sehr früh starben oder recht betagt wurden. Das brachte viel Leid über die Überlebenden, zu denen auch Aggie gehört, die nun als einzige übrig blieb. 

Während des Ausflugs erinnert sich Aggie immer wieder an ihre Familie, ihre Kindheit, ihre sportliche Karriere, an die Lebenden und die Toten und ihr Geheimnis. Gerade zu Beginn ist es nicht ganz einfach, den Gedankensprüngen ihres alten Gehirns zu folgen. Vorwärts und Rückwärts muss man sich die Geschichte zusammensetzen, die eine nicht geringe Tragik entfaltet. Laufen ist alles für Aggie, auch Verzicht. So richtig öffnen kann sie sich nicht und so findet sie nur wenige Freunde und eine Familie bleibt ihr versagt. Obwohl man Aggie als eher schwierige nicht unbedingt Persönlichkeit empfindet, die irgendwie immer gedämpft wirkt, der die uneingeschränkte Freude fehlt, entwickelt man doch viel Sympathie für ihre Fortschrittlichkeit und die Kraft, die sie im wahrsten Sinne des Wortes am Laufen hält. 

3,5 Sterne (🐳🐳🐳+)

Die Frau, die allen davonrannte von Carrie Snyder
ISBN: 978-3-442-74987-4


Dienstag, 21. Mai 2019

Die Sehnsucht


Der kleine Max ist vor einem Jahr verschwunden. Sein Vater, der Feuerwehrmann Till Berghoff, hat nie aufgehört nach seinem Sohn zu suchen. Zu arbeiten war ihm nicht mehr möglich, sein ganzes Leben wird eingenommen vom Gedanken an seinen Sohn. Unter Verdacht, etwas mit dem Verschwinden des Kindes zu tun zu haben, steht ein Mensch, der weitere Kinder getötet hat. Allerdings hat dieser nie gesagt, was mit Max wirklich geschah. Till sieht keine andere Möglichkeit mehr, als sich selbst in die Klinik einweisen zu lassen. Nur so kann er dem vermeintlichen Täter nahekommen und möglicherweise herausfinden, welches Schicksal sein Sohn erlitten hat.

Für seine ungewöhnlichen Thriller ist der Autor bekannt und so verwundert es nicht, dass auch dieser Roman auf den Bestsellerlisten gelandet ist. Ein Vater auf der Suche nach seinem Sohn, dessen Leiche auch nach einem Jahr noch nicht gefunden wurde. Das Leid über den unglaublichen und unerträglichen Verlust hat die Familie und das Leben des Vaters zerstört. Und dennoch kennt er kein anderes Ziel, als seinen Sohn zu finden und sei es nur, um Gewissheit zu haben. Niemandem wünscht man, dass der Verbleib eines geliebten Menschen ungeklärt bleibt.

Man muss vermutlich ein passionierter Leser von Thrillern sein, um diesen Roman uneingeschränkt genießen zu können. Für jemanden, den es eher zu anders strukturierten Kriminalromanen zieht, könnte dieses Buch etwas zu extrem wirken, zu extrem in Aussagen, in Aktionen und Reaktionen. Die Art, wie es der Vater schafft, in die Klinik zu kommen, wie er dort empfangen wird, was weiter geschieht. Zwar löst sich das schließlich irgendwie auf, doch kann es sein, dass der Leser, der solche Extreme eher nicht gewöhnt ist, auf dem Weg dorthin längst verloren ging. Wenn sich auftut, dass längst nicht alles so ist wie es scheint, bleibt letztlich der Respekt vor dem besonderen Twist, mit dem wahrlich nicht zu rechnen war.


3 Sterne (🐳🐳🐳)

Der Insasse von Sebastian Fitzek
ISBN: 978-3-426-28153-6


Sonntag, 19. Mai 2019

Ritter in Not


Nach dem Sommer kehrt Ruhe ein in Le Lavandou. Der Gerichtsmediziner Dr. Leon Ritter frönt seinem Hobby dem Boule-Spiel. Doch die Ruhe währt nicht lange. Ein aufgeregter Vater meldet seine Tochter als vermisst. Etwas, das die Polizei zunächst nicht ganz so ernst nimmt, schließlich ist die junge Dame schon 22 Jahre und sie hat einen Freund - welcher dem Vater nicht gefällt. Nur wenige Tage später wird die junge Frau tot aufgefunden und Dr. Leon Ritter wird mit der rechtsmedizinischen Untersuchung beauftragt. Für die ermittelnden Beamten liegt schnell auf der Hand, wer der Täter sein muss. Eine Meinung, die Leon Ritter nicht teilt.

Bereits zum fünften Mal stört Dr. Leon Ritter die örtliche Polizei mit seinen Querdenker-Ansichten. Wenn er das Kribbeln im Nacken spürt, kann er einfach nicht anders als selbst Nachforschungen anzustellen. Seine Freundin Isabelle, die selbst bei der Polizei ist, hat seine Herangehensweise zu schätzen gelernt. Damit steht sie allerdings relativ alleine auf dem Revier. Meist wird doch der einfachste Ansatz bevorzugt. Und im Moment herrscht sowieso Unruhe auf der Wache, denn eine junge Psychologin soll für besseres Teamwork sorgen, etwas, bei dem die Beamten gerne ihre Mitarbeit verweigern würden.

Auch im Nachsommer kommt das französische Flair auf. Man sieht Leon Ritter förmlich durch die Straßen von Le Lavandou flanieren, hier und da einen kleinen Stop einlegen und einen Kaffee trinken oder bei einer Partie Boule sein Geschick zu beweisen. Doch natürlich handelt es sich bei diesem Buch nicht um ein Urlaubsbuch, sondern um einen Krimi. Und so löst das zunächst ungewisse Schicksal einer jungen Frau einige Besorgnis aus. Wie es sich für einen Kriminalroman gehört, ist die bedauernswerte junge Dame bereits tot. In dem Spannungsfeld zwischen den etwas drögen Beamten und dem gewitzten Rechtsmediziner kann man verfolgen wie sich der anfangs simple Vermisstenfall zu einer fesselnden Mordermittlung entwickelt. Verdächtig unverdächtig sind dabei etliche Personen. Ein schöner nachsommerlicher Kriminalroman, der auch im Frühsommer gerne gelesen wird.

4 Sterne (🐳🐳🐳🐳)

Mörderisches Lavandou von Remy Eyssen
ISBN: 978-3-548-29126-0


Freitag, 17. Mai 2019

Seelenzauber


Dr. Miles Singer kommt als hochdekorierter Kriegsheld nach hause. Schon immer wollte er Arzt werden und während seiner Militärzeit konnte er das Studium beenden. Die erlebten Kriegsgreuel haben seine Seele nie verlassen und nun arbeitet er in einem Hospital für kriegsversehrte Soldaten. Seine Fähigkeiten als Heiler, seine gesamte Vergangenheit muss er dabei verheimlichen.  Dennoch unternimmt er, was möglich ist, um seinen Patienten zu helfen. Eines Tages taucht ein Fremder vor der Klinik auf, der einen Sterbenden im Arm hält. Zwar scheitert Miles’ Versuch, den jungen Mann zu retten, doch der tödlich Getroffene, kann ihm noch zuraunen, dass er vergiftet wurde und dass er Miles’ Hexenmal sieht.

Die magische Welt von Kingston wird von Sturmsängern beherrscht, die das Wetter im Zaum halten. Ihre Fähigkeiten haben zu einem großen Aufschwung Aelands geführt, allerdings auch zum Krieg. Der Strom der heimkehrenden traumatisierten und verletzten Soldaten reißt nicht ab. Doch längst ist nicht alles so wie es scheint. Das Geheimnis des Toten, gilt es, zu enträtseln. Gemeinsam mit dem Fremden macht sich Miles daran, zu untersuchen, wer am Tod des jungen Mannes Schuld trägt. Miles kommt dabei nicht umhin, sich seiner Vergangenheit zu stellen. 

Recht unbefangen geht man an diesen Fantasy-Krimi, doch schon nach wenigen Seiten ist man gefesselt. Zunächst vermutet man, der junge Arzt soll und will einfach nur herausfinden, wer das Opfer vergiftet hat. Bald schon entwickelt sich diese Frage in eine lebensverändernde Situation für Miles. Die Vergangenheit, die er eigentlich für immer hinter sich gelassen glaubte, drängt sich im wahrsten Sinne des Wortes mit Macht zurück in sein Leben. Alles, was er als gegeben hinnahm, stellt sich als anders heraus. Und schließlich bleibt nur noch der Fremde als Vertrauter. 

Diese Mischung als Kriminalroman und Fantasy zieht einen wirklich in ihren Bann. Um wessen Wohl geht es? Inwieweit rechtfertigt der Zweck die Mittel? Und die immer wiederkehrende Frage nach dem Vertrauen. Wer hängt an welchem Faden? Wer manipuliert? Dieses Romandebüt kann man wirklich nur empfehlen, es entführt in eine fremde ähnliche Welt, die einen zum Teil schaudern lässt, immer fesselt und nie die Hoffnung verlieren lässt. 

Ein weiterer Band um die Kingston-Welt ist angekündigt. 


4,5 Sterne (🐳🐳🐳🐳+)

Witchmark von C. L. Polk
ISBN: 978-3-608-96395-3


Donnerstag, 16. Mai 2019

Die Bergbarbaren


Als Chronist seines Dorfes versteht sich der junge Johannes A. Irrwein. Sein großes Vorbild ist sein Großvater, der als einer der ersten das Dorf verlassen hat, um Arzt und Wissenschaftler zu werden, der als einer der Wenigen die Hochsprache  spricht. Seinen Eltern dagegen ist Johannes nicht sehr gewogen. Sie kommen ihm wie echte Bergschrate vor, die ihm manchmal peinlich sind. Für Johannes ist es ein Glück, dass er ein Stipendium an einer weiterführenden Schule bekommt, wo er sich zum ersten Mal unter Gleichgesinnten glaubt. 

Aus Johannes’ von seiner Meinung gefärbten Notizen erfährt man von der Geschichte des Bergdorfes St. Peter am Anger. Diese bilden jedoch nur den Hintergrund zur Familiengeschichte des Jungen. In der eigentlichen Handlung wird von Johannes Großeltern berichtet, seinem Großvater, der auszog die Welt und die Wissenschaft kennenzulernen, seiner Großmutter, die die Tochter hegte. Die Tochter, die Johannes’ Mutter wurde, die so garnichts von der Weltoffenheit des Großvaters abbekommen hat. Sein Vater, der ein rechtes Raubein ist. Johannes selbst dagegen, ist ein stilles in sich gekehrtes Kind, das sehr zu seinem Großvater aufschaut. Nach dessem frühen Tod, möchte der Junge nur eines, in die Fußstapfen seines geliebten Opa-Doktors treten.

Kauzig, aber lebensecht wirken die Dorfbewohner von St. Peter. Und manchmal so hinterwäldlerisch, dass man verstehen kann, dass Johannes einfach nur weg will. Es gibt Zeiten, da will man einem fast unverständlichen Dialekt und der dörflichen Enge nur entfliehen. Doch so wie das Dorf sich letztlich nicht gegen den Fortschritt stellen kann, auch wenn es sich noch so wehrt, so kann sich auch Johannes dem Charme des Dorfes nicht erwehren als er etwas älter wird. Was wird der junge Mann unternehmen, wenn er das Abitur in der Tasche hat, sein Reifezeugnis. Gekonnt schlägt die Autorin den Bogen vom Opa-Doktor zum Enkel-Doktor. Mit ihren skurrilen Charakterzeichnungen lässt sie ihre Leser teilhaben am Prozess des Erwachsen werdens, den Johannes durchläuft. Wenn einem der Junge zunächst noch etwas verschroben vorkommt, so wächst er mit den Aufgaben, in die er sich hineinlaviert, und findet eine jugendliche Balance zwischen seiner aneckenden Intelligenz und seiner herzerwärmenden Gutmütigkeit.


4 Sterne (🐳🐳🐳🐳)

Blasmusikpop von Vea Kaiser
ISBN: 978-3-462-04603-8


Mittwoch, 15. Mai 2019

Kleiner Vogel



Die Eltern von Labee und Nason sind arm. Sie leben in den Bergregionen Thailands. Trotz der Armut hält Labee immer zu ihrer kleinen Schwester. Als die beiden Mädchen irgendwann von Fremden abgeholt werden, können sie nicht sofort ahnen, was ihnen blüht. Eine lange Schiffsreise in einem Container führt Labee schließlich nach Amerika. Von einem offensichtlich wohlhabenden Paar wird sie adoptiert und wird nun Livia genannt. Ihre Schwester Nason jedoch bleibt verschwunden. Auch noch während sie heranwächst, muss Livia einiges ertragen. Doch nie verlässt sie der Gedanke an ihre Schwester. Nach dem Schulabschluss beginnt Livia eine Laufbahn bei der Polizei.

Menschenhandel und Sexualdelikte sind die Verbrechen, die Livia mit allem Einsatz versucht, aufzuklären. Die, welche solche üblen Taten begehen, sind in ihren Augen die übelsten Verbrecher. Kaum noch haben sie eine Daseinsberechtigung. Geprägt von ihrer Herkunft, versucht Livia alles, um die Monster vor Gericht zu bringen und den Opfern zu einem besseren Leben zu verhelfen. Viele der Opfer stehen für Livia anstelle der Schwester, deren Schicksal unbekannt ist. Gerade darin verbirgt sich doch die vage Hoffnung, ihr kleiner Vogel, ihre kleine Schwester könnte noch am Leben sein. Livia wird die Suche nie aufgeben und so muss sie den Kampf gegen die Dämonen der Vergangenheit aufnehmen.

Einige Schilderungen in diesem ersten Roman um Livia Lone Thriller können für manche Leser schwer zu ertragen sein. Auch muss dahingestellt bleiben, ob man es gutheißen möchte, wie weit Livia geht, um die Monster auszuschalten. Ausgesprochen spannend ist dagegen ihre Suche nach ihrer Schwester und ihr eigenes tragisches Schicksal berührt. Wie verwerflich Menschenhandel in jeder Form und besonders wenn Kinder betroffen sind, wird eindeutig klar. In Rückblenden erfährt man von dem Weg nach Amerika und Livias Jugend bei den Adoptiveltern. Dies und der in der Gegenwart angesiedelte Teil der Handlung bildet einen ergreifenden Spannungsbogen. Livia Lones komplexe Persönlichkeit weckt trotz der Beschädigungen, die sie in früher Jugend erfahren musste, große Sympathie.

3,5 Sterne (🐳🐳🐳+)

Der Schrei des toten Vogels von Barry Eisler
ISBN: 978-1-5039-4496-1


Dienstag, 14. Mai 2019

Die Viererbande


Die Ferien sind vorbei und damit auch ein etwas langweiliger Sommer. Der neue Chef unterbreitet Vera Stanhope die Aufgabe, in einem Gefängnis einen Vortrag zu halten. Vielleicht sollte sie das auf einen der Mitarbeiter abschieben, aber nein, das macht sie selbst. In der Anstalt trifft Vera einen alten Freund ihres verstorbenen Vaters. Der verurteilte korrupte Ex-Polizist John Brace will mit ihr sprechen. Unter der Bedingung, dass Vera sich um seine Tochter Pattie kümmert, ist er bereit zu erzählen, wo die Leiche des lange verschwundenen Robbie Marshall zu finden ist. Brace, Robbie, Veras Vater Hector und der Professor - das war die Viererbande. Veras Neugier ist geweckt.

Mit Mitte fünfzig hat Vera Stanhope bei der Polizei eine gesicherte Position. Allerdings kann sie auch jederzeit gehen, sie hat immer gearbeitet und ihr steht ein Pension zu. Doch soweit ist Vera noch nicht. Es gibt Fälle zu lösen und Menschen, die ihr Interesse wecken. Vermeintlich unlösbare Rätsel, Ereignisse, die schon lange her sind, bedeuten für Vera eher eine Aufforderung, den Dingen auf den Grund zu gehen. Und durch ihre mitfühlende Art findet sie schnell Zugang zu Menschen. Dass sie der jungen Pattie hilft, nimmt sie freundlich in Kauf, um zu erfahren, was Brace zu sagen hat. 

Wenn man die TV Serie zumindest in Teilen kennt, wird einem beim Leben des Buches Vera Stanhope in Form ihrer Darstellerin Brenda Blethyn vor Augen stehen. Zwar mag es manchem lieber sein, eigene Vorstellungen zu entwickeln, doch verkörpert die hervorragende Schauspielerin ihre Figur so gekonnt, dass es kaum etwas zu beanstanden gibt. Vera ist schon ein spezieller Charakter, vielleicht nervt sie manchmal, ist bossy oder sarkastisch, doch immer strahlt sie eine Wärme aus, die einen für sie einnimmt. Mit dem vorliegenden Band macht sie sich bereits an die Lösung ihres siebten auf Deutsch erschienenen Falls. Der beginnt erstmal mit einer Aufforderung, die nicht so viel mit Polizeiarbeit zu tun hat. Doch Vera ist trotz ihrer Art eine, die sich kümmert. Und so ist es kein Wunder, dass sie in eine Ermittlung gerät, mit der sich schließlich ihr ganzes Team beschäftigt. Was ist damals mit Robbie Marshall geschehen? Noch immer ein Dorn in Veras Seite ist ihre Beziehung zu ihrem Vater, dem seine Viererbande wichtiger war als sein einziges Kind. Kein Wunder also bei den zutage tretenden Verbindungen, dass sich Vera die Sache genauestens vor die Brust nimmt. Ein Fall, der sich aus fast nichts zu einem packenden Gespinst aus Vergangenheit und Gegenwart entwickelt. 

4 Sterne (🐳🐳🐳🐳)

Die andere Tote von Ann Cleeves
ISBN: 978-3-499-27598-2


Sonntag, 12. Mai 2019

Die normale Jasmijn


Senta ist ihre beste Freundin. Immer ist sie mit ihrer Wärme und Ehrlichkeit bei Jasmijn. Völlig unverständlich ist es für das kleine Mädchen, dass ihr Hund, ihre beste Freundin, nicht mit in die Vorschule darf. So eine Schule kann einfach nichts taugen. Jasmijn beschließt, dass die Vorschule nichts für sie ist und sie nach hause geht. Das erweist sich allerdings als schwierig, weil sie nur rechts abbiegen darf. Zum Glück wird Jasmijn von der Mutter ihrer Freundin Colette gefunden. Doch welche Aufregung hat das bei ihren Eltern verursacht. Man geht doch nicht einfach aus der Schule, erstmal schon garnicht und auch nicht, ohne Bescheid zu sagen und am allerwenigsten, wenn man erst vier Jahre alt ist. 

Jasmijn ist ein wenig schüchtern oder sie ist eben so, das sagt ihre Mutter. Mütter mit ihrer allumfassenden Akzeptanz sind eben so. Sie verstehen irgendwie alles, auch wenn die Töchter Migräne bekommen, wenn zu viel auf sie einstürzt. Dagegen will Jasmijn nicht anders sein, sie wäre gerne die normale Jasmijn aus ihrem Tagebuch, die fröhlich ist und auf Menschen zugehen kann. Nicht die, die lange braucht, um sich an Neuerungen zu gewöhnen, die in helle Aufregung gerät, wenn zu viel auf sie einstürzt. Aber sie ist nun einmal so. 

Den leisen Hauch einer Ahnung wie schwierig das Leben für Jasmijn ist bekommt man durch dieses Buch. Wahrscheinlich wird man wie ihre Mitmenschen nicht alles nachvollziehen können, doch man bewundert die Kraft, mit der sie versucht in einer für sie so fremden und bedrohlichen Welt zurecht zu kommen. Jasmijn möchte manchmal den Kopf in den Sand stecken, irgendwo sein, wo sie ihre Ruhe hat, doch gleichzeitig möchte sie sein wie alle anderen. Zwischen den beiden Polen die richtige Balance zu finden, ist ihre wichtigste Aufgabe. Und sie gibt nie auf, auch wenn sie so manchen Rückschlag und auch echte Schicksalsschläge hinnehmen muss. Trotz allem bleibt sie zwar ein Mensch, der manchmal schwierig einzuschätzen ist, der doch immer liebenswert erscheint und dem man helfen möchte, sich selbst zu helfen. Mit großer Intelligenz schafft es Jasmijn, sich ihr Leben so einzurichten, wie es für sie gut ist. Ergriffen liest man ihre Worte und wünscht ihr, dass es ihr immer gelingen möge, den für sie gangbaren Weg zu finden.

Ein toller gefühlvoller Roman über das Erwachsen werden, der einen packenden Einblick in die Gedankenwelt eines Kindes, jungen Mädchens, einer jungen Frau gewährt, die sich in einer Umgebung zurechtfinden muss, die ihr alles abverlangt.


4 Sterne (🐳🐳🐳🐳)

Mein Leben als Sonntagskind von Judith Visser
ISBN: 978-3-95967-319-8


Freitag, 10. Mai 2019

Gebunden


Buchbinder ist nicht der Traumberuf von Emmett Farmer. Wegen seiner gerade überstandenen Krankheit ist er allerdings zu geschwächt, um auf dem Hof seiner Eltern vollwertige Arbeit zu leisten. Und so ist die Einladung der Buchbinderin Seredith, bei ihr eine Ausbildung zu beginnen, seine einzige Chance. Anfänglich fällt ihm die Lehre eher schwer, doch nach und nach bemerkt er, dass die Bücher, die Seredith bindet, etwas ganz Besonderes sind. Doch so bald vertraut die alte Dame ihrem Lehrling nicht. Den Raum, in dem die wertvollsten Bücher lagern, darf er nicht betreten. Der Tod seiner Meisterin trifft Emmett schwer.

Das Buch beginnt wie ein dystopischer Krimi. Gespannt verfolgt man Emmett, der fast schon gegen seinen Willen mit der Lehre als Buchbinder beginnt und der doch wie geschaffen scheint für diesen Job. Was allerdings hat es mit der Tätigkeit auf sich. Seredith bewahrt ihr Geheimnis bis es eigentlich zu spät ist. Doch Emmett hat einiges herausgefunden und er bohrt weiter, er will der Wahrheit auf den Grund gehen. 

In drei Teilen entfaltet sich die Geschichte und ab dem zweiten Teil wartet das Buch mit Überraschungen und einer ganz anderen Storyline auf. Zwangsläufig muss man sich von Erwartungen, die der Beginn geweckt hat, lösen. Ebenso von Einschätzungen und Deutungen, mit denen man schnell bei der Hand war. Ob man Überraschungen liebt oder vielleicht einer verlorenen Handlung nachtrauert, die Autorin schafft es, wieder zu fesseln und einen nachdem man den Wechsel verdaut hat an eine herzzerreißende Erzählung heranzuführen, der es an Emotionalität nicht mangelt. Schließlich erfährt man, was mit dem Binden der Bücher auf sich hat und man sträubt sich gegen die Art, wie etwas für Zwecke gebraucht wird, gerade nicht, um dem Wohl der Beteiligten zu dienen. Um die Engstirnigkeit bewahren zu können, werden Menschen aufs Gemeinste manipuliert. Da kann man nur den Wunsch nach Wahrheit hegen und hoffen, dass die Wahrheit und die echten Gefühle siegen gegen Unterdrückung und Repression. 

Eine schöne Buchüberraschung, die als Hörbuch gelesen von Frank Stieren bestens rüberkommt, deren Printausgabe so herausragend gestaltet ist, dass man sie gerne im Regal begrüßen möchte.


4 Sterne (🐳🐳🐳🐳)

Die verborgenen Stimmen der Bücher von Bridget Collins
ISBN: 978-3-9586-2503-7


Mittwoch, 8. Mai 2019

Ein Löwe


Viele Jahre sind ins Land gegangen seit dem Sommer in Brandham Hall. Als ihm sein altes Tagebuch in die Hände fällt, beginnt Leo Colston darin zu blättern und zu lesen. Nach und nach kommen die Erinnerungen an den Sommer, in dem er dreizehn wurde, wieder. Sein Schulfreund Marcus hatte dafür gesorgt, dass Leo über den Sommer mit zu Marcus’ Eltern durfte. Im Herrenhaus ging es schon vornehmer zu als bei Leo zu Hause. Trotzdem fühlte Leo sich gut aufgehoben und in der Familie Maudsley freundlich aufgenommen. Zwar waren Marcus Geschwister Denys und Marianne etwas älter, trotzdem schlugen sie den Jungen gegenüber einen nachlässig freundlichen Ton an.

Für eine zwölf- oder dreizehnjährigen Jungen ist die Welt noch in Ordnung. Da ist es von Wichtigkeit, jeden Tag das Barometer zu beobachten, darüber zu debattieren, ob der Sommer so weitergehen wird. Spaziergänge mit der Familie, Spaziergänge zum Baden, die Sommerhitze. Die Zeit könnte kaum schöner sein. Als Marcus für einige Tage krank das Bett hüten muss, bekommt Leo sogar ein eigenes Zimmer, damit er sich nicht ansteckt. Während dieser Tage schickt ihn Marianne immer mal wieder los, um kleine Botengänge auszuführen. Recht unbedarft wandert Leo zwischen Marianne und Ted Burgess, einem Pächter, hin und her. 

Die Atmosphäre, die dieser Roman ausströmt, erinnert ein wenig an „A Room with a View“. Es ist eine Zeit, in der Standesgrenzen meist noch eingehalten werden. Die feinen Herrschaften des Landadels halten noch was auf sich und das gemeine Volk kennt seinen Platz. Und doch sind diese Grenzen nicht mehr ganz undurchlässig. Natürlich wagt es niemand zu sagen und niemand würde es zugeben, aber es kann vorkommen, dass die vermeintlich festgezurrten Grenzen verschwimmen und verschwinden. Irgendwie profitiert Leo selbst etwas davon, normalerweise würde er eher zu den verarmten Verwandten gehören. Doch weil er Marcus’ Freund ist, gehört er einfach dazu. Jemand aus dem Dorf kann nicht so einfach dazugehören. Diese unsichtbare Grenze wird eher nicht überschritten. Doch was, wenn zwei sich verlieben? Könnte diese zwei sich nicht wünschen einen Verbündeten zu haben, einen wie Leo, der nur so halb dazu gehört, der noch nicht richtig versteht, weshalb er zum Boten wird. Es wird ein unvergesslich schöner und auch tragischer Sommer für Leo, der seinem ganzen Leben eine Richtung gibt. 

Die Jugend ist die schönste Zeit und gleichzeitig auch die Schlimmste. Eine Zeit, die zu überstehen ist, an die man sich später doch am liebsten erinnert. In ihr können einschneidende Ereignisse sehr prägend sein. Viele werden sich an den Sommer ihres Lebens erinnern. Dies und Leos Erinnerung an den Sommer von Brandham Hall lassen die Lektüre dieses bezaubernden Romans zu einem besonderen Genuss werden.


4 Sterne (🐳🐳🐳🐳)

Ein Sommer in Brandham Hall von L. P. Hartley
ISBN: 978-3-96161-063-1


Sonntag, 5. Mai 2019

Ken und Püppi


In Berlin wurde der Besitzer eines Handyladens erschossen. Er hatte Schulden. Ob die Tat irgendetwas mit seiner türkischen Herkunft zu tun hatte, ist unbekannt. Pikant dagegen ist, dass es sich bei dem Schuldeneintreiber, der kurz vor der Tat im Laden war, um den Bruder der Kommissarin Begüm Duran handelt. Diese bekommt eine Mitteilung, dass ihr Bruder bedroht wird und geht erstmal eigene Wege. Ihre Kollegen Viktor Puppe (Püppi) und Kenji Tokugawa (Ken) beginnen mit den Ermittlungen. Könnte es sich um Clankriminalität handeln? Eigentlich unlogisch, denn ein Toter zahlt seine Schulden gewiss nicht mehr. Kurz darauf kommt es in einem verlassenen Krankenhaus zu einer Explosion.

Das Berliner Triumvirat ist schon aus ihrem ersten Fall bekannt. Hier jedoch bekommen sie es mit einem besonders brisanten Fall zu tun, der sie an den Rand ihrer Kräfte bringt. Schnell wird heutzutage ein Anschlag vermutet und anstatt die Kräfte zu bündeln, scheint es so als bestehe jeder auf seiner Zuständigkeit und koche lieber sein eigenes Süppchen. Und so versucht der Staatsschutz die Ermittlungen an sich zu ziehen. Doch die Herrschaften haben ihre Rechnung ohne Puppe und Togugawa gemacht. Die bohren weiter und finden einen weiteren Ansatz. Derweil geht Duran immer noch eigene Wege, sich in jedem Moment bewusst, dass sie Gefahr läuft, ihren Job zu verlieren.

Man möchte an dieser Welt verzweifeln, wenn man von den Taten und ihren Hintergründen liest. Einiges ist überhaupt nicht in Ordnung in diesem Land und man gewinnt den Eindruck, als verschließe die Öffentlichkeit und auch die Politik die Augen. Niemand kann wohl eine Lösung anbieten, aber es sollte doch etwas getan werden, um Schlimmeres zu verhindern. Wissen wir überhaupt noch, wie gut es uns geht? Tief dringen die Ermittler in das reale Darknet dieser Republik. Wahrscheinlich hätten sie einige Sachen lieber nicht erfahren und sind doch aufmerksamer als zuvor. Der Fall ist nicht so einfach wie vermutet und in seiner Vielschichtigkeit fast nicht aufzulösen. Mit großem Einsatz gelingt es ihnen Licht ins Dunkel zu bringen, nur um erfahren, dass Verdunkelungsaktionen gestartet werden. Beim Lesen fällt man mitunter von einer Ohnmacht in die nächste. Man ist dann über die humorvollen Auflockerungen hinsichtlich verschiedener Dialekte schon dankbar und immer gepackt von den unglaublichen Ereignissen, die doch einen realen Hintergrund haben.


4 Sterne (🐳🐳🐳🐳)

Die Todesbotin von Thomas Elbel
ISBN: 978-3-7341-0415-2


Samstag, 4. Mai 2019

Lauf schnell


Erst vor kurzem ist Katrin mit Mann und Kind nach Münster gezogen. Die Familie ist noch in der Eingewöhnung und Thomas beruflich viel unterwegs. Mit dem kleinen Leo wird es manchmal etwas viel und Katrin ist froh, als sie vor dem Kindergarten eine andere Mutter kennenlernt, mit der sie sich gleich versteht. Dann jedoch stirbt Katrins Vater unerwartet und die junge Mutter ist untröstlich. Wenige Tage später ist Leo verschwunden. Katrin kann es nicht fassen, wo ist ihr Junge. Kommissarin Charlotte Schneidmann und ihr Kollege Jäger beginnen sogleich mit den Ermittlungen.

Charlotte Schneidmann wirkt sofort sympathisch so wie sie sich in den Fall hineinkniet, dass sie manchmal an ihre eigene Kindheit denken muss, scheint unvermeidlich. Wenn ein Kind betroffen ist, nimmt es einen auch wenn man nur am Rande beteiligt ist, immer ganz besonders mit. Unvorstellbar, dass jemand etwas gegen ein kleines Kind gehabt haben könnte. Sie es dann die Eltern, die jemandem ein Dorn im Auge sind? Erste Hinweise gibt es, dass die Ehe von Katrin und Thomas nicht ganz ideal ist. Unter normalen Umständen und normalen Menschen sollte dies allerdings nicht unbedingt ein Grund sein. Wer allerdings kann und möchte sich schon in einen Verbrecher hineinversetzen.

Wenn man Münster hört, kommt man fast nicht umhin an Boerne, Thiel und Wilsberg zu denken. Die haben die Stadt irgendwie krimimäßig okkupiert. Dennoch braucht sich das Team Schneidmann und Jäger nicht zu verstecken. Die Kommissar ermitteln hartnäckig und gehen den Hinweisen auf den Grund. Katrins Überforderung erscheint manchmal etwas größer als nötig und Thomas lässt sich etwas schnell gehen. Katrins Sorge um ihren Sohn kann man dagegen sehr gut nachvollziehen. Für ihren Kleinen würde sie alles tun und sei es nur der Polizei zu helfen, ihren Leo endlich zu finden. In diesem ersten Band einer Reihe bekommt man gute Unterhaltung geboten, wobei Cathrin Bürger als Vorleserin des Hörbuch eine sehr passende Besetzung ist.


3,5 Sterne (🐳🐳🐳+)

Schattenfreundin von Christine Drews
ISBN: 978-3-8368-0710-4


Freitag, 3. Mai 2019

Mathilda



Fabian Risk ist noch beurlaubt solange seine Tochter noch im Krankenhaus liegt. Seine Kollegen kommen auch ohne ihn klar, so einigermaßen jedenfalls. Doch als ein kleiner Junge grausam ermordet wird und es zu weiteren Todesfällen kommt, bei denen offensichtlich Fremdeinwirkung im Spiel ist, kehrt Risk an seinen Arbeitsplatz zurück. Die Kollegen sind sich untereinander noch nicht einig, wo ein Motiv für die Taten zu sehen ist und ob es mögliche Zusammenhänge gibt. Es wird also zunächst mal in alle Richtungen ermittelt. Diesmal haben es Kommissar Risk und seine Kollegen mit Taten zu tun, die auf den ersten Blick keinen Zusammenhang aufweisen.

Die Reihe um Kommissar Fabian Risk geht hier in die vierte Runde. Es wird empfohlen, die Bücher in der richtigen Reihenfolge zu lesen, da die Rahmenhandlung einige Wichtigkeit hat. Auch in seinem neuesten Fall bekommt es die Polizei mit Ereignissen zu tun, die sich als sehr komplex erweisen. Da Risk noch nicht wieder voll einsatzfähig ist, seine familiäre Situation eigentlich die volle Aufmerksamkeit fordert und er doch von einem alten Fall nicht lassen kann, geht doch einiges von seiner Zeit für den laufenden Fall verloren. Auch seine Kollegin Irene hat große Probleme und die Chefin lässt es sich nicht nehmen, ihre Kur abzubrechen, weil sie einfach nicht genug Leute haben. 

Wer die vorherigen Bände der Reihe nicht kennt, wird vielleicht einige Schwierigkeiten mit dem Roman haben. Die anderen jedoch werden zumindest in weiten Bereichen gebannt an den Seiten kleben und die Handlung ohne große Pausen inhalieren. Der Autor schafft es einfach immer wieder mit seinem komplexen Konstrukt zu fesseln und zu begeistern. Vielleicht mag man ihm nicht in jeden einzelnen Schritt folgen, doch im Großen und Ganzen sind die Kriminalromane von Stefan Ahnhem einfach spannend und intelligent gestrickt. Man darf nur nicht erwarten, dass jede Frage sofort beantwortet wird. Schließlich gibt es weiter gefasste Zusammenhänge im Leben, die sicher noch Raum für weitere Bücher lassen. Doch auch im vorliegenden Band werden Vorgänge aufgedeckt, die es in sich haben und von denen man gleichzeitig eigentlich nie gelesen haben möchte. Gerade wie ernste Themen so packend dargelegt werden, macht den besonderen Reiz des Buches aus.


4 Sterne (🐳🐳🐳🐳)

10 Stunden tot von Stefan Ahnhem
ISBN: 978-3-550-20005-2


Donnerstag, 2. Mai 2019

Der schwarze Mann


Schon früh wird Sadie Mutter. Sie ist glücklich mit dem Vater ihrer kleinen Tochter, dennoch sieht sie sich gezwungen, ihre kleine Familie zu verlassen. Miles gerät sogar in Verdacht, er könne seiner Frau etwas angetan haben. Es gibt allerdings keinen Beweis für eine Tat und so zieht Miles seine Tochter alleine groß. Als Sadie nach sechzehn Jahren wieder auftaucht, ist das eine Sensation. Weitere zwei Jahre später hat es Sadies Tochter Amber zu einer gewissen Bekanntheit gebracht. Sie wird von einem Filmteam begleitet, dass einen Film über die Ereignisse produziert, die Ambers Leben so zur Gänze verändert haben.

Die Storyline hält sich an das Drehbuch der Filmcrew, so fühlt man sich tatsächlich eher wie ein Zuschauer als ein Leser. In Rückblenden erfährt man nach und nach mehr zum Hintergrund der Geschichte und erst ganz zum Schluss kann man sich zusammenreimen, was damals mit Sadie und vor zwei Jahren mit Amber geschehen ist. Dieser Aufbau des Romans ist sehr klug und mal andersartig konstruiert als bei vielen anderen Kriminalromanen. Von der Art des Aufbaus her ist dieser Thriller wirklich toll strukturiert. Man kann sich den Film oder die Miniserie direkt vorstellen, wo mit dem Voranschreiten der Handlung die Spannung gesteigert wird.

Die Handlung als solche muss man allerdings erstmal verdauen, wenn man dann noch liest, dass die Idee auf einer Zeitungsnotiz gründet, wird es noch gruseliger. Nicht jeder wird sich in die Geschichte hineinfinden können. Gerade wenn man von den verqueren Gedanken, auf die Jugendliche machmal kommen und die zu gewissen Grausamkeiten führen können, eigentlich überhaupt nichts wissen will. Zu was sind gerade junge Menschen fähig, die die Folgen ihres Handelns noch nicht richtig überblicken können? Respekt, dass sich die Autorin mit so einem Thema beschäftigt hat und ein besonders im Aufbau tolles Buch geschaffen hat. 


3 Sterne (🐳🐳🐳)

Rachemädchen von Phoebe Locke
ISBN: 978-3-10-490708-6


Mittwoch, 1. Mai 2019

Blau Gelb


Blau und Gelb sind die Farben Schwedens und die sollen von einer Gruppe unter der Führung von Carl Cederhielm verteidigt werden. Er und seine Kumpane verunglimpfen zunächst die freie Presse. Damit allerdings geben sie sich nicht lange zufrieden, bald schon werden die ersten Journalisten umgebracht. Vorgeschobener Grund für ihre Aktivitäten ist die angebliche Tatenlosigkeit, mit der die schwedische Regierung dem Flüchtlingsstrom begegnet. Unter den Journalisten lösen sie Angst und Schrecken aus. Die Redaktionen werden bewacht und die Zeitungsmitarbeiter überlegen sich jeden Schritt. Das weitere Vorgehen der Täter hat allerdings noch eine ganz besonders negative Qualität.

Der Autor war selbst lange als Journalist tätig. Er kennt die Szene, über die er schreibt, in und auswendig. Laut Autoren-Info war er vermutlich wegen seiner Tätigkeit selbst rechtspopulistischen Bedrohungen ausgesetzt, hat seinen Beruf aufgegeben und seinen ersten Roman verfasst. Mit diesem lehrt er die Leser wahrlich das Fürchten. Die dargestellten Szenarien wirken doch allzu realistisch. Man wünschte sich, niemand müsste auf solche Ideen kommen. Wie können vermeintlich normale Bürger nur so krude Ideen vertreten und dafür auch noch den Tod von Menschen in Kauf nehmen. Doch wie überall steht man diesem weltweit vorhandenen Phänomen wohl auch in Schweden ziemlich hilflos gegenüber. 

Obwohl man bei der Handlung des Romans bei einigen Punkten ziemlich lange warten muss, bis man die Zusammenhänge versteht, wirken die Vorgänge besonders soweit sie in Schweden angesiedelt sind ausgesprochen spannend und sie scheinen die harte und raue Realität darzustellen. Das macht die Lektüre nicht gerade leicht, in Teilen liest sich das Buch eher wie ein Zeitungsbericht als wie ein Roman und dadurch wird er doch recht schwer verdaulich. Ob dieser Grausamkeiten fragt man sich, wie bloß das Schlimmste verhindert werden kann und findet doch keine Lösung. Der Patriot verstört, rüttelt auf und bringt das Gedankenkarussell ins Kreisen. Schweden ist leider überall.


4 Sterne (🐳🐳🐳🐳)

Der Patriot von Pascal Engman
ISBN: 978-3-608-50365-4